Auf unserer Studienreise Ende Juni 2017 nach Budapest besuchten wir verschiedene Institutionen sowie Akteure vor Ort und nahmen – neben privaten Erkundungen der Stadt – an einer Free-Walking-Tour sowie einer Führung durch das ungarische Parlament teil.
Wir sprachen über die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Europäischen Union, das Verhältnis zu Russland, die aktuellen Debatten und Konflikte um das Gesetz für aus dem Ausland unterstützte NGOs sowie über das neue ungarische Hochschulgesetz, das im Zusammenhang mit der „Central European University“ von George Soros international mit kritischer Medienberichterstattung begleitet wurde.
Einige weitere wesentliche Eindrücke unserer Studienreise über das Land und seine politischen Verhältnisse haben wir im Folgenden zusammengestellt.
Während der Zeit der Zugehörigkeit Ungarns zum sowjetisch geführten Ostblock war die Bewahrung der eigenen nationalen Identität und ein starker Nationalstaat die Grundlage für erfolgreiche Entwicklung und gewisse Selbstbestimmung und Autonomie. Kompetenzabgaben und Vergemeinschaftungen sind historisch häufig mit negativen Folgen für das Land verbunden gewesen. Diese Erfahrungen aus der Zeit der Sowjetunion prägen noch heute immer wieder die Grundhaltung von Teilen der Bevölkerung und vieler Politiker.
In den politischen Debatten in Ungarn dominierte in der jüngeren Vergangenheit die Migrations- und Flüchtlingskrise. Und gerade in diesem Zusammenhang wurden und werden zentrale Fragen nationaler Souveränität und Identität angesprochen. Besonders den Teil der Bevölkerung, der nicht zu den über 1,7 Mio. Bewohnern der Hauptstadt Budapest zählt, beschäftigt diese Frage. Hier zeigt sich auch der starke Gegensatz zwischen der ländlichen Bevölkerung und den Einwohnern der mit weitem Abstand größten Stadt Ungarns (insgesamt besitzt Ungarn knapp 10 Mio. Einwohner). Ungarns Regierungschef Viktor Orbán stellte sich dabei immer wieder als Bewahrer der ungarischen Bevölkerung dar, während sich Brüssel von den Menschen vor Ort und ihren Bedürfnissen entfernt hätte.
Für die Vermittlung der Politik nehmen Medien, wie in jedem größeren Staat, eine entscheidende Rolle ein. Die Presse- und Medienlandschaft Ungarns ist ohne die Einbeziehung der Vergangenheit jedoch kaum zu verstehen. Die klassische Mediennutzung bewegt sich eher auf geringem Niveau. Viele Zeitungen und Fernsehnachrichten haben auch nach mehr als 25 Jahren unter nichtsowjetischer Herrschaft noch Probleme, in der Bevölkerung als unabhängig und überparteilich wahrgenommen zu werden; der staatliche Fernsehsender berichtet ganz überwiegend regierungsfreundlich. Eine immer stärkere Nachfrage erfahren daher Onlinemedien und Blogs, die als innovativer und unabhängiger angesehen werden und vor allem auch jüngere Menschen besser ansprechen. Positiv ist für diese Entwicklung das im europäischen Vergleich besonders gut ausgestattete Breitbandnetz des Landes.
Auch bei der Struktur des politischen Spektrums spielt die Vergangenheit des Landes eine erhebliche Rolle. Die sozialistische Politik und Ideologie während der Zeit der Ostblock-Zugehörigkeit wurde nie systematisch aufgearbeitet und vielfach verdrängt. Resultat dieser fehlenden Aufarbeitung ist ein außerordentlich stark polarisiertes Parteiensystem, in dem „Maß und Mitte praktisch nicht vertreten sind“, wie uns ein Gesprächspartner sagte.
Auf der einen Seite ist die Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán, Fidesz, die einen starken Nationalismus vertritt und damit nach derzeitigen Umfragen auch bei der nächsten Wahl zur Ungarischen Nationalversammlung im April 2018 mit einer deutlichen Mehrheit rechnen kann. Zweitstärkste Kraft würde aktuell die rechtsextreme Jobbik werden, die gerade eine Wandlung zu einer Volkspartei vollziehen möchte und dafür beispielsweise Personen mit radikaler politischer Ausrichtung aus der engen Parteiführung und von Spitzenpositionen zu verdrängen versucht.
Auf der anderen Seite ist die sozialdemokratische MSZP sowie mehrere kleine linke Splitterparteien, die als Opposition der Orbán-Regierung wenig entgegenzusetzen haben und derzeit kaum eine schlagkräftige Alternative zur Regierung darstellen. Alle unsere Gesprächspartner sahen eine Veränderung dieser Situation auch in den nächsten Jahren als sehr unwahrscheinlich an.