Ein weiteres Mal führte unsere jährliche Studienreise nach Osteuropa ins Baltikum, diesmal nach Tallinn. Estland, von dessen 1.250.000 Einwohnern knapp ein Drittel in der Hauptstadt Tallinn lebt, weckte aufgrund mehrerer Punkte unser Interesse: Das Land hatte 2017 die EU-Ratspräsidentschaft inne, 2018 werden 100 Jahre Unabhängigkeit gefeiert und außerdem kommt Estland eine besondere Vorreiterrolle in der Digitalisierung zu. 2000 wurde hier sogar der Zugang zu Internet als Menschenrecht erklärt!
Online zu wählen ist in Estland seit 2005 möglich. Zunächst lokal erprobt, kann man seine Stimme auch für das nationale und sogar das EU-Parlament online abgeben, bei Höchstwerten wurde diese ergänzende Möglichkeit von fast einem Drittel der Bevölkerung genutzt.
Gefasst wird diese Errungenschaft unter das besondere Konzept E-Estonia: Mit einer chip-basierten National ID Card kann man sich online ausweisen und rechtskräftig gültige digitale Unterschriften leisten. Seien es Wahlen, Steuern, Überweisungen, Identifikation und Transaktionen im Krankenhaus oder sogar Einsicht in Patientenakten von zu Hause aus, alles läuft über diese eine Karte. Diese Praktik hat neben Effizienz, Kosten- und Zeiteinsparung auch Transparenz und einen besseren Dialog zwischen Regierung und Bürgerinnen und Bürgern zum Ziel.
Verschiedene Punkte standen während unserer Studienreise auf dem Programm:
- Besuch der Deutschen Botschaft: Vom Vertreter der Botschaft gab es ein Potpourri an Informationen zu Estland, zur Arbeit im Institut und interessante Antworten auf unsere vielfältigen Fragen. Estland bezeichnete er als „erfolgreichstes“ post-sozialistisches Land; hier wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 die komplette politische Führungselite ausgetauscht und so ein Neuanfang ermöglicht. Auch die besondere Bedeutung der Zugehörigkeit zu supranationalen Organisationen wie der EU oder NATO für einen kleinen Staat wie Estland an der russischen Grenze wurde hervorgehoben.
- Eine Führung durch das estnische Parlament, welches strukturell überraschend viele Gemeinsamkeiten zum Deutschen Bundestag aufwies. Sogar einer Sitzung mit einigen der 101 Abgeordneten aus den vertretenen 6 Parteien konnten wir dabei beiwohnen. Auf einem der Türme des hübschen Gebäudes wird hier täglich mit dem Aufgang der Sonne (oder um 7 Uhr im Sommer) zur Nationalhymne die estnische Flagge gehisst.
- Die Bedeutung dieses Aktes wurde während einer umfangreichen Stadtführung deutlich, die auf die jahrhundertelange Besetzung in der Geschichte des Landes einging. Die Unabhängigkeit nach dänischer, schwedischer und russischer Herrschaft wurde 1918 erlangt; das Land wurde 1940 allerdings in die Sowjetunion integriert und erlangte erst – mit dem Zerfall dieser – 1991 die Freiheit zurück. Der Beitritt zur EU sowie zur NATO erfolgte schließlich 2004.
- Bei einem Besuch der Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, oder kürzer EU-LISA, wurden in verschiedenen Vorträgen Einblicke in die drei Systeme SIS II (Information Schengenraum), VIS (Visa) und EuroDac (Asyl) gegeben, und im Anschluss besonders Frauen ermutigt, in das Feld der IT-Security einzusteigen. Die Agentur nahm erst Ende 2012 ihren Betrieb auf und unterstützt mit ihren Netzwerken die EU-Politik in den Bereichen Asyl, Migration, Einwanderung und Grenzschutz.
- Natürlich blieb während der 5 Tage auch genug Zeit, um Eindrücke der Stadt zu sammeln und die Atmosphäre zu genießen. Sei es die Aussicht vom Turm der Olaikirche, die hübschen Holzhäuser im Westen der Stadt, die Sonderausstellung zum 100-jährigen Jubiläum im Historischen Museum oder der Wind um die Nase an der Ostsee – Tallinn hat wirklich was zu bieten!